„Endlich ist dieses Jahr zu ende.“ So habe ich es jetzt häufig gehört. Und meist wird dann das Jahr 2020 mit Schimpfwörtern tituliert, die ich an dieser Stelle nicht wiederholen möchte. Endlich ist 2020 vorbei, als ob es länger gedauert hat als andere Jahre zuvor.
Diese Zeit fühlt sich anders an
Im Deutschlandfunk hörte ich ein interessantes Interview, in dem der Soziologe Hartmut Rosa zum Zeitempfinden von uns Menschen gefragt wurde. Er bestätigt das. Er sagte: Es gibt Zeiten, da fragt man sich am Ende des Jahres: Was? Es ist schon wieder ein Jahr vorbei? Da ist die Zeit verflogen und hat kaum Erinnerungsspuren in einem hinterlassen. Das ist aber in diesem Jahr anders. Dieses Jahr konnten wir nicht im Routinemodus leben. Auch nicht wir als Gemeinde. Wir wurden aus Gewohntem herausgerissen. Vieles mussten wir anders machen, ob wir wollten oder nicht. Durch die vielen Veränderungen, die uns abverlangt wurden, haben wir die Zeit dieses Jahres auch anders erlebt. Deshalb haben viele das Gefühl, dass es schon ziemlich lang ist seit März, seit wir unsere Routinen verlassen haben und mit vielen Einschränkungen leben müssen, und sehnen das Ende dieser Zeit entgegen. Wir wollen wieder planen, wir wollen Verlässlichkeit, einen festen Halt. Wir wünschen uns die Kontrolle über unser Leben zurück.
Dabei wissen wir doch zu gut, dass wir diese Kontrolle gar nicht haben, noch nie hatten. Unser Leben und unsere Zeit bleiben unverfügbar.
Meine Zeit steht in deinen Händen.(Psalm 36,7) Dieses Psalmwort steht über dem Jahreswechsel. Und es sagt: Wir haben unser Leben nicht in der Hand. Es ist in der Hand eines anderen.
Ich glaube, dieses Jahr, ob ihr es nun lang oder kurz erlebt hat, wird tiefe Spuren in uns hinterlassen. Aber ich glaube auch, dass Gott Spuren hinterlassen wird. Wir wurden zwar aus unseren Glaubensroutinen herausgerissen, und doch haben wir nicht aufgehört zu glauben, zu hoffen und zu beten. Wir haben Formen gefunden, einander uns zu stärken und Nähe trotz Distanz zu leben. Manche Lebensfragen haben wir ernster gestellt: Was ist wichtig? Was trägt? Was macht Leben wirklich aus? Manche biblischen Worte haben neu zu uns gesprochen. Zumindest kann ich das von meiner Seite so sagen.
Für einige bekam in dieser Zeit der Glaube mehr Gewicht als vorher. Und selbst, wenn es anders war, wenn der eine oder die andere dieses Jahr eher als gottesferne Zeit erlebt hat, wenn die Zweifel größer waren als das Vertrauen, war 2020 trotzdem Gottes Zeit. Es ist und bleibt Lebenszeit aus Gottes Hand, auch dann, wenn Gottes Nähe nicht spürbar war.
Rückblick auf die Jahreslosung für 2020
Ein Bibelwort aus dem Markusevangelium sollte uns als Jahreslosung durch 2020 begleiten. Es lautete: Ich glaube, hilf meinem Unglauben! (Mk 9,24) Der Satz stammt aus einer Heilungsgeschichte. Der Vater eines schwer kranken Jungen schreit diese Worte Jesus entgegen. Zuvor hatte er Jesu Jünger um Hilfe gebeten. Doch die waren hilflos angesichts dieser großen Not. Und dann wurde der Junge zu Jesus gebracht.
Und dann geht die Geschichte folgendermaßen weiter:
20Und sie brachten den Jungen zu Jesus. Sobald der Geist Jesus sah, schüttelte er den Jungen durch heftige Krämpfe. Er fiel zu Boden, wälzte sich hin und her und bekam Schaum vor den Mund.21Da fragte Jesus den Vater: »Wie lange hat er das schon?« Er antwortete: »Von klein auf.22Der böse Geist hat ihn auch schon oft ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Wenn du kannst, dann hilf uns! Hab doch Erbarmen mit uns!«23Jesus sagte: »Was heißt hier: ›Wenn du kannst‹? Wer glaubt, kann alles.«24Da schrie der Vater des Jungen auf: »Ich glaube, hilf meinem Unglauben.«25Immer mehr Menschen kamen zu der Volksmenge. Als Jesus das sah, gebot er dem unreinen Geist: »Du stummer und tauber Geist, ich befehle dir: Verlasse den Jungen und kehre nie wieder in ihn zurück!«26Da schrie der Geist auf und schüttelte den Jungen durch Krämpfe hin und her. Dann verließ er ihn. Der Junge lag da wie tot. Schon sagten viele: »Er ist tot.«27Aber Jesus nahm seine Hand und zog den Jungen hoch. Da stand er auf. (Markus 9,20-27)
Ein Mensch will glauben, dass Gott hilft, und kann es doch nicht. Ein verzweifelter Vater sucht Hilfe, er streckt sich nach Jesus aus, vertraut sich ihm an und merkt im selben Moment, wie sehr er sich mit seinem bisschen Hoffnung auf dünnem Eis bewegt. Ich glaube und ich glaube nicht – hilf du mir. Mir gefällt diese Ehrlichkeit des Vaters, der Jesus nicht irgendwelche Glaubensstärke vorspielt. Er zeigt seinen Zweifel und versucht gleichzeitig zu vertrauen. Ich fühle mich in meinem Suchen und Glauben, in meinem Fragen und dann doch wieder Vertrauen diesem Vater sehr nah.
Im September haben wir uns in der Kasseler Gemeinde in einem sogenannten Bibliolog dieser Geschichte genähert. Der Bibliolog ist eine Form von Bibelarbeit, bei der die Teilnehmenden einzelnen Personen aus der Geschichte ihre Gedanken, Gefühle und Stimme leihen. Es ist auch möglich Gegenstände oder Ähnliches zum Sprechen zu bringen. Am eindrücklichsten für mich war, als die Hand, von der in der Geschichte die Rede ist, sprechen durfte. Ich hatte einführend zu den Teilnehmenden gesagt: „Du bist die Hand. Erzählst du uns, was da gerade mit dir passiert ist? Wie hat sich das angefühlt?“ Dann gaben verschiedene aus der Gruppe der Hand eine Stimme. Es kamen zu Äußerungen wie: „Wie schön sich das anfühlt, wenn du mich berührst, Jesus.“ „Ich spüre deine Wärme. Welche Kraft von deiner Hand ausgeht. Du ziehst mich hoch. Ich werde heil“ Bald ging es nicht mehr nur um die Hand des kranken Jungen, sondern um die Hand, die Jesus entgegenstreckt. Eine Hand, die aus der Not herauszieht und rettet.
Das erinnerte mich an das Bild, das Berthold Messinger zur Jahreslosung gemalt hat. Wir sehen darauf drei Hände, die von unten aus dem lila-grünen dunkleren Bereich des Bildes sich sehnsüchtig nach oben dem Licht entgegenstrecken. Dort im oberen lichten, hellen Teil sind wieder drei Hände. Die eine streckt sich den unteren entgegen. Die beiden andern breiten sich wie Segenshände aus. Ihre Verbindung in der Mitte sieht für mich wie eine Taube aus. So wird ja oft der Heilige Geist in der Kunst dargestellt. Gottes Hände in trinitarischer Form? Zusammen mit den drei menschlichen Händen, die sich ihnen von unten entgegenstrecken, bilden sie ein Kreuz.
Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Berthold Messinger hat versucht, das in dieser Form zum Ausdruck zu bringen. Gott ist segnend da und hält uns seine Hand entgegen. An uns ist es, dass wir uns nach ihm ausstrecken und vertrauen lernen.
Ich sehe noch einen alten theologischen Lehrer vor mir. Ein knöcherner Mann, streng war er und verärgert, wenn man allzu sehr stotterte beim Griechisch-Übersetzen. Was mir aber vor allem von ihm in Erinnerung geblieben ist, wie er einmal mit seinen hageren Händen erklärte, was es heißt zu glauben. Er streckte seine Hände vor sich aus und hielt sie geöffnet nach oben und sagte dabei: Wir können nur unsere leeren Hände Gott hinhalten und hoffen, Gott wird sie füllen. Glaube können wir nicht machen, er wird uns geschenkt.
Lasst uns unsere leeren Hände Gott entgegenstrecken
Wir wissen nicht, was im neuen Jahr auf uns noch alles zukommen wird. Sicher wird Vieles besser werden, wenn das mit den Impfungen klappt und das Virus nicht mehr eine solche beherrschende Macht hat wie derzeit. Bestimmt werden wir auch wieder zusammenkommen können. Wie sehr freue ich mich auf das gemeinsame Singen, das unbeschwerte Brunchen nach dem Gottesdienst, das Feste-feiern. Das braucht noch Geduld, ich weiß.
Und wir müssen realistisch sein, es wird nach Corona anderes kommen, das uns erschüttern und uns Not machen wird. Schon jetzt leiden Geschwister an Krankheiten jenseits von Covid 19. Schon jetzt müssen wir liebe Menschen loslassen. Und wir werden weiter spüren, dass wir unser Leben nicht unter Kontrolle und unsere Zeit nicht in der Hand haben.
Und dann gilt es weiter unsere Hände auszustrecken in dem Vertrauen, dass wir nicht ins Leere greifen.
Unser Leben und unsere Zeit stehen in Gottes Händen. Das will ich glauben, hilf du Gott, mir dabei. Amen
Ein gesegnetes neues Jahr wünscht Ihnen und euch
Pastorin Katharina Lange