Liebe Gemeinde,
ihr habt von Erika einen Teil der Geschichte gehört, die Johannes über Jesu Begegnung mit der Samariterin am Jakobsbrunnen niedergeschrieben hat. Ich möchte euch die Geschichte ganz erzählen – ich, Photia, die Samariterin am Jakobsbrunnen.
Es war ein Tag wie jeder andere in Sychar. Ich stand auf und erledigte meine täglichen Aufgaben. Gegen Abend ging ich wie üblich zum Brunnen, um dort Wasser zu schöpfen – für das Abendessen und für den nächsten Tag. Es war ungewöhnlich leer dort; normalerweise treffen sich die Frauen abends am Brunnen, um miteinander zu reden. Ich hatte sie wohl verpasst. Nur ein einziger Mensch saß dort – ein Mann, ein Jude. Er sieht erschöpft aus, seine Kleidung ist staubig – wahrscheinlich war er den ganzen Tag unterwegs gewesen. „Nun ja“, denke ich bei mir, „ich kenne ihn nicht, ich habe mit ihm nichts zu schaffen. Und er mit mir sowieso nicht – wahrscheinlich hat er nur notgedrungen hier haltgemacht. Normalerweise umgehen Juden dieses Gebiet weitläufig. Naja, vielleicht ist er nicht allzu fromm? Ach, was mache ich mir da für Gedanken? Am besten, ich schöpfe schnell mein Wasser und mache mich auf den Nachhauseweg. Das Abendessen will ja auch noch zubereitet werden.“ Ich beschleunige meinen Schritt etwas, gehe zielstrebig auf den Brunnen zu und kaum bin ich da – spricht mich der Mann an! „Gib mir zu trinken!“ sagt er zu mir. Ich kann meine Überraschung nicht verbergen: „Wie, du bittest mich um etwas zu trinken, der du ein Jude bist und ich eine samaritische Frau?“
Die Situation zwischen den Juden und den Samaritern ist bekanntlich vertrackt – um es mal sehr freundlich auszudrücken. Seit vielen Genera-tionen gibt es eine Trennung zwischen unseren Völkern. Wir beten den Herrn auf dem Berg Garizim an, sie im Tempel in Jerusalem. Die Uneinigkeit geht soweit, dass es unter den Juden „Samariter“ ein übliches Schimpfwort geworden ist! Und wenn es nur das wäre – in der Öffentlichkeit spricht er mich an, ein Mann spricht mit einer ihm unbekannten Frau! Doch bevor ich mich für meinen befremdeten Ausruf entschuldigen kann, spricht der Mann schon weiter – und nun bin ich vollends irritiert. Er sagt: „Wenn du wüsstest, was Gott den Menschen schenken will und wer es ist, der dich jetzt um Wasser bittet, dann hättest du ihn um Wasser gebeten und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Erst bittet er um Wasser und dann bietet er welches an? Was soll diese Rede vom „lebendigen Wasser“? Ich weiß ja, das Wasser aus dem Brunnen ist nicht sehr „lebendig“, es ist nicht so frisch wie das Quellwasser in den Bergen. Aber immerhin hat doch Jakob, unser Stammvater, diesen Brunnen gegraben! Vor dem muss doch auch ein Jude Respekt haben.

Ärgerlich…

Erst fand ich diesen Mann nur befremdlich, jetzt bin ich verärgert. Und was soll das ganze dann auch noch mit Gott zu tun haben? Will er sich über mich lustig machen? Aber ich weiß ja, was sich schickt und mache meinem Ärger nicht so ganz offensichtlich Luft wie es vielleicht ein Mann getan hätte. „Herr, du hast doch keinen Eimer und der Brunnen ist tief. Woher willst du das lebendige Wasser haben? Unser Stammvater Jakob hat uns diesen Brunnen hinterlassen. Er selbst, seine Söhne und seine ganze Herde tranken daraus. Du willst doch nicht sagen, dass du mehr bist als Jakob?“ … Da ist der Ärger doch mit mir durchgegangen. Ich ducke mich schon ein bisschen weg und erwarte eine ebenso unfreundliche Antwort. Aber weit gefehlt! Der Mann lächelt freundlich und… nachsichtig? Er erinnert mich ein wenig an meinen Vater – dabei ist er sicher nicht viel älter als ich. Er klingt auch ein bisschen nach meinem Vater, als er anfängt zu erklären – nicht von der Stimme her, aber die Art und Weise erinnert mich sehr daran:

„Wer dieses Wasser trinkt, wird wieder durstig. Wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird nie mehr Durst haben. Ich gebe ihm Wasser, das in ihm zu einer Quelle wird, die bis ins ewige Leben quillt.“

Ich muss zugeben – meiner Verwirrung hat diese Erklärung nicht abgeholfen. Sie ist immer noch genauso groß wie vorher. Aber der Ärger ist gewichen und zwar einer großen Neugier.

Nie wieder Eimer schleppen

Es sprudelt geradezu aus mir heraus: „Herr, gib mir von diesem Wasser, dann werde ich keinen Durst mehr haben und muss nicht mehr hierher kommen, um Wasser zu schöpfen.“ Wisst ihr, es ist sehr anstrengend, dieses tägliche Wasserholen. Und es ist auch wirklich eine Aufgabe, die immer wieder erledigt werden muss. Jeden Tag aufs Neue den Eimer zum Brunnen tragen, dort Wasser schöpfen und dann den schweren Eimer nach Hause schleppen. An besonders heißen Tagen würde ich am liebsten den ganzen Eimer direkt austrinken nach dieser Tortur! Wasser dagegen, das meinen Durst für immer stillen würde – das wäre großartig! Nie wieder schleppen müssen, nie wieder darüber nachdenken, ob das Wasser reicht oder ob ich noch ein zweites Mal gehen sollte, zur Sicherheit…

Sehnsucht nach mehr

Aber neben dieser Vorstellung eines Lebens, das um eine große Mühe und auch um eine große Sorge erleichtert ist, ist da noch etwas in mir. Ich kann es gar nicht genau benennen. Eine Sehnsucht, die nichts damit zu tun hat, nicht mehr jeden Tag schwere Eimer schleppen zu müssen. Aber bevor ich darüber intensiver nachdenken kann, reißt mich der Mann aus meinen Gedanken. Und zwar alles andere als angenehm. Er fordert mich auf, meinen Mann zu holen. „Ich habe keinen Mann“, antworte ich schlicht. Und die Sehnsucht, die vorher nur ein vages Gefühl war, wird mir jetzt ganz eindeutig bewusst. Mein ganzes Leben habe ich mich nach Halt gesehnt, aber es hat nie geklappt so wie es bei den anderen Frauen geklappt hat – alle, die ich kenne und die in meinem Alter sind, haben einen Mann, die meisten auch schon Kinder… Ich dagegen bin in dieser Hinsicht komplett gescheitert. Fünf Ehen und keine davon hat gehalten. Und die jetzige Situation… Aber wieder reißt mich der Unbekannte aus meinen Grübeleien, diesen Gedanken, die schon seit vielen Jahren in meinem Kopf umherkreisen.
„Es stimmt, wenn du sagst: ›Ich habe keinen Mann.‹ Fünfmal warst du verheiratet, und der, mit dem du jetzt zusammenlebst, ist nicht dein Mann. Da hast du die Wahrheit gesagt.“
Die Erkenntnis trifft mich ganz plötzlich und genauso sprudelt es wieder aus mir heraus: „Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist.“ Natürlich – ein von Gott Gesandter, der kennt die Menschen, selbst wenn er ihnen zum ersten Mal begegnet. Er ist in Gottes Namen unterwegs, um den Menschen den rechten Weg aufzuzeigen.

Ist er deshalb hierher gekommen? Hierher nach Samarien? Das würde ich gerne von ihm wissen. Aber wie frage ich ihn am besten?„Unsere Vorfahren verehrten Gott auf diesem Berg. Ihr Juden dagegen behauptet, dass Jerusalem der Ort ist, an dem Gott verehrt werden will.“ Natürlich versteht er die angedeutete Frage und gibt mir eine Antwort, über die ich noch sehr lange nachdenken musste: „Aber die Stunde kommt, ja sie ist schon gekommen, da wird der Heilige Geist, der Gottes Wahrheit enthüllt, Menschen befähigen, den Vater an jedem Ort anzubeten. Gott ist ganz anders als diese Welt, er ist machtvoller Geist, und alle, die ihn anbeten wollen, müssen vom Geist der Wahrheit erfüllt sein. Von solchen Menschen will der Vater angebetet werden.“
Das war eine Antwort, mit der ich überhaupt nicht gerechnet hätte. Erst viel später, nach vielem Nachdenken und vielen Gesprächen, die ich mit anderen Jüngerinnen und Jüngern geführt habe, kann ich diese Worte verstehen und möchte sie anderen Menschen weitergeben. Dieser Mann, Jesus, hat sich mir durch das ganze Gespräch hindurch mehr und mehr als der Messias zu erkennen gegeben. Dass er am Ende ganz ausdrücklich sagt, er sei der verkündigte Christus, hat sich die ganze Zeit schon angedeutet. Jesus bietet uns an, unseren Lebensdurst zu stillen. Er weiß um unsere Sehnsucht nach einem erfüllten und heilen Leben. Jesus verurteilt uns nicht dafür, wie wir auf irdische Weise versuchen, es zu erreichen, er wendet sich deshalb nicht von uns ab, sondern geht auf uns zu: Er zeigt uns die Quelle des Lebens auf – die lebendige Beziehung zu Gott im Heiligen Geist. Er macht die Hoffnung, die wir gegenüber der Zukunft haben, zur Gegenwart: Gottes Geist ist bereits unter uns. Wir können mit Gott an jedem Ort und zu jeder Zeit reden. In jeder Situation unserer Lebens sind wir mit unserem himmlischen Vater durch den Geist verbunden. So und nicht anders will er mit uns leben: Immer und überall ist er uns liebevoll zugewandt – als Vater, Sohn und Heiliger Geist.
Amen

Barmherziger Gott,
wir alle sehnen uns nach erfülltem, beglückenden und sinnvollen Leben. Du willst dieses Leben allen Menschen zum Geschenk machen. Du hast uns aufgetragen, Boten deiner Liebe zu sein. Gib uns die Kraft und den Mut, dein Geschenk in Wort und Tat weiterzugeben.
Herr, wir denken an die Geschwister, die heute nicht mit uns Gottesdienst feiern können. Sei bei ihnen und behüte sie. Lass sie spüren, dass sie durch deinen Geist Gemeinschaft haben – mit dir und mit deiner Kirche.
Herr, wir beten für die vielen Flüchtlinge, die sich in unserem Land auf-halten. Stelle ihnen Menschen zur Seite, die sie nicht verurteilen auf-grund ihrer Herkunft oder Religion, sondern die ihnen helfen und sich für sie einsetzen. Schenke den Helferinnen und Helfern Kraft und Mut, sich für die Flüchtlinge einzusetzen. Wir bitten für diejenigen in Ent-scheidungspositionen, dass sie sich nicht von Fremdenfeindlichkeit, wirtschaftlichem Kalkül oder Machtliebe leiten lassen, sondern dass Barmherzigkeit und Güte ihre Entscheidungen bestimmen.
Schenke uns allen deinen Geist, der befreit – auch zu neuem Denken und zu neuen Ideen, wie wir deine Liebe in der Welt Wirklichkeit werden lassen können.
Das, wofür wir keine Worte finden, legen wir in das Gebet, das Jesus uns gelehrt hat: Vater unser…