Liebe Gemeinde,
ja, es ist wieder die Perikope, nach der ich predige. Und die führt uns heute Morgen nach Ephesus.
Ephesus ist für einen modernen, gebildeten Menschen ein Weltkulturerbe in der Türkei. Unter anderem mit Überresten des gewaltigen Artemis-Tempels, einem der sieben antiken Weltwunder. Wenn man zur richtigen Zeit Zeit hat und sich ein Doppelzimmer teilt, dann kann man für ganze 129 € auch dorthin ‚Zeit-Reisen‘ – habe ich neulich gelesen.
Und Ephesus damals? Ephesus ist die Gemeinde, in der Paulus am längsten gewirkt hat. Aber die Theologen glauben zu wissen, dass dieser Brief an die Epheser gar nicht von Paulus verfasst wurde. Die Anschrift dieses Briefes enthält eine Leerstelle, in die jeweils ein unterschiedlicher Name eingesetzt werden konnte. Er scheint ein Rundschreiben an die kleinasiatischen Gemeinden gewesen zu sein, welches nicht versucht, >>exemplarisch auf spezifische Probleme einer einzelnen Gemeinde einzugehen, sondern darstellt, was christliche Gemeinde ihrem Wesen nach ist << (Zürcher Übersetzung S. 304).

Ein Serienbrief

Ein Serienbrief also an viele kleinasiatische Gemeinden, der in der Zeit nach Paulus (75-90 n. Chr.) im Namen des Paulus sprechen will.
In der Zürcher Bibel geht die neutestamentliche Lesung unseres Gottesdienstes, die wir eben gehört haben, nahtlos in unseren Predigttext über, und ich möchte diesen, der Vollständigkeit halber, auch einmal ganz lesen (Eph. 5, 1-8):
(1) Folgt nun dem Beispiel Gottes als geliebte Kinder
(2) und führt euer Leben in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer für Gott, als ein lieblicher Wohlgeruch.
(3) Unzucht aber und jede Art von Unreinheit oder Habgier soll bei euch nicht einmal erwähnt werden – so schickt es sich für die Heiligen –
(4) auch nichts Schändliches, kein törichtes Geschwätz und keine Possenreisserei, was sich alles nicht ziemt, hingegen und vor allem: Danksagung.
(5) Denn die sollt ihr erkennen und wissen: Keiner, der Unzucht treibt oder sich verunreinigt oder der Habsucht unterliegt – das hieße ja, ein Götzendiener sein, hat Anteil am Erbe im Reich Christi und Gottes.
(6) Niemand betrüge euch mit leeren Worten! Denn eben das ist es, was den Zorn Gottes über die Söhne und Töchter des Ungehorsams kommen lässt.
(7) Habt also nichts zu schaffen mit ihnen.
(8) Denn einst wart ihr Finsternis, jetzt aber seid ihr Licht im Herrn.

„Wie langweilig!“, das war meine erste Reaktion. Darüber willst du wirklich predigen? Altbekannte Verhaltenscodices, Anleitungen zu christlichem Leben, und eben alles , was man als Christ ja nicht machen sollte.
Bitterkeit und Wut, Zorn, Geschrei und Lästerrede sei verbannt; Unzucht, Unreinheit, Habgier soll unter euch nicht einmal erwähnt werden. Nichts Schändliches, kein törichtes Geschwätz und keine Possenreisserei.
Huh, klingt das nicht sehr nach Moralin-Tablette am frühen Morgen? Würde euch das, würde Sie das erquicken und Ihnen Kraft geben für die kommende Woche? – Ich meine, nein! Und deshalb drehe ich den Spieß jetzt einfach um und versuche, den Paulus-ähnlichen Verfasser mit seinen eigenen Worten, seinen eigenen Waffen zu schlagen!
Denn was steht da in Vers 6: Niemand betrüge euch mit leeren Worten! Und selbst die schönsten und wahrsten Worte können zur falschen Zeit am falschen Ort zu leeren Worten mutieren.
Also du, lieber paulinischer Zeitgenosse, dein Wort verfängt heute Morgen nicht. Es riecht nicht danach, dass uns davon etwas jetzt wirklich frommen könnte. Das kennen wir doch alles schon. Pietistische Phrasendrescherei, was du da betreibst. Wenig erbaulich. Und davon soll ich satt werden für die kommende Woche? – Oder etwa doch?
Liebe Gemeinde, vergessen sie bitte heute Morgen einfach mal diese vielen gut gemeinten Worte, sie können das sowieso ziemlich sicher auch auswendig herunterbeten. Und nehmen wir uns stattdessen doch etwas Zeit, uns mit den Basics, den Grundlagen christlichen Lebens auseinander zu setzen.
Und damit lade ich sie ein, sich mit mir auf kleine, kurze Teile unseres Predigttextes zu konzentrieren, die ich wirklich heute Morgen für würdig erachte, genauer genommen betrachtet zu werden.
Vers 1 unseres Predigtextes beginnt mit den schlichten Worten:

Gottes geliebte Kinder

Folgt nun dem Beispiel Gottes als geliebte Kinder …
Das Wort ‚folgen‘ löst gleich wieder Widerwillen in mir aus. „Willst du nun folgen!“ Endlich folgen, das zu tun, was ich dir sage! – Solche Sätze habe ich da schon noch aus meiner Kindheit im Ohr, folgsam zu sein, als veraltetes Synonym für gehorchen, artig sein.
Folgen kann aber auch etwas Verheißungsvolles sein. Wenn unser Gegenüber uns freundlich auffordert: „Würden Sie mir bitte folgen?!“
Als beleuchteter Schriftzug auf einem Polizeiauto allerdings, „follow me – Folgen Sie mir“, ist das dann schon wieder weniger verheißungsvoll.
Gut, betrachten wir ‚Folgen‘ mal in dem Sinn von Nachfolgen, einer geht voran und wir hinterher. Einen Leitwolf, Leithengst, ein Leittier brauchen wir doch alle in unserem Herden getriebenen Leben, um sicher anzukommen. Oder?
Aber auch das scheint hier nicht gemeint zu sein, denn wir werden im Text aufgefordert, einem Beispiel zu folgen und keinem Menschen, und keinem geringeren Beispiel nämlich, als Gottes Beispiel.
Aha, und welche Beispiele gibt Gott mir denn, denen zu folgen wäre? Wird Gott nicht erst beispielhaft für mich in seiner Menschwerdung, in seiner Manifestation als Jesus und als Christus, in dem letzterer und der Vater eins sind?
Ja – Jesus Christus als beispielgebend zu akzeptieren, ihm nachzufolgen, damit kommen wir dem Grund, aus dem wir heute Morgen hier sitzen, doch schon ein gewaltiges Stück näher. Und die eine oder der andere hat das in seinem Leben bei irgendeiner passenden Gelegenheit auch schon ganz deutlich gesagt: „Ja, Herr, dir will ich nachfolgen!“ Hier stehe ich, mit allem was ich bin und habe.“
Aber so ganz meint das unser Text m.E. immer noch nicht. Denn er spricht davon, dem Beispiel Gottes nicht als Nachfolger, nicht als Jünger, sondern als geliebte Kinder zu folgen.
Wenn Paulus oder seine nachfahrenden Schreiber diejenigen, die ihnen ernsthaft zuhören, als geliebte Kinder bezeichnen möchte, soll er das ruhig tun. Irgendjemand wird ihm schon sagen, dass die Betitelung als geliebte Kinder nicht immer die glücklichste Art und Weise ist, an Menschen heranzutreten. Auch wenn diese Menschen, die glauben wollen, die an dem Gesagten irgendetwas fasziniert, nun nicht von Geburt aus fromme Juden sind, sondern Heidenchristen.
Oder sollte „geliebte Kinder“ doch noch anders gemeint sein? In dem Sinne „Folgt nun dem Beispiel Gottes, als von Ihm selber, als von Gott geliebte Kinder?
Oh ja, wenn ich diesen Satz so betrachte, dann kann er eine Dynamik entwickeln, die ihr nie mehr vergessen werdet. Die euch möglicherweise begeistern kann, wenn ich nun folgende Frage an Sie, an euch richte:
Fühlen Sie, fühlst du dich denn, hier und jetzt, wirklich als ein von Gott geliebtes Kind? Das aus seiner Hand alles bekommt, was es braucht? Ist Gott für Sie die Wesenheit, die jeden Herzenswunsch erfüllt, die Frieden und Licht in Ihnen wohnen lässt, dessen Erbarmen alle unsere Verletzungen heilt, die, mit denen wir schon geboren wurden, und die, die wir uns im Laufe unseres Lebens zuziehen, bewusst oder unbewusst, selbst verschuldet oder durch andere?
Sind sie auf der Spur, die dahin führt, sind Sie schon durch jene Türe gegangen, dass sie „das Leben und volles Genüge haben“, wie es im Johannesbrief heißt? Oder wie die Zürcher schreibt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben“.
Johannes 10,10 – das kann sich jeder merken!
Wohnen sie noch oder leben sie schon – im Vater-Mutter-was auch immer- Haus Gottes? Sind sie in Gottes Liebe wirklich und fühlbar angekommen?
Vor zwei Jahren bin ich in den Losungen der Herrnhuter über einen so genannten dritten Text gestolpert, der dem gelosten alttestamentlichen Spruch und dem dazu ausgewählten neutestamentlichen Text folgt, und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat. Ich habe in Herrnhut angerufen, weil ich den Autor dieses Textes nicht mehr wusste. Heute kann ich ihn wieder benennen.

Gott wird dich im Himmel nicht mehr lieben als auf Erden

Er ist ein Dominikanermönch, geboren im Jahr 1225 in Roccasecca in Italien, schreibt Wikipedia, der als einflussreichster Philosoph und Theologe der Geschichte gesehen wird – Thomas von Aquin. Und von ihm stammt der folgende Satz:
Gott wird dich im Himmel nicht mehr lieben als auf Erden. (Thomas von Aquin)
Lassen Sie sich diesen Satz bitte in aller Ruhe auf der Zunge zergehen.
Gott wird dich im Himmel nicht mehr lieben als auf Erden.
Was heißt das im Klartext? – Nein, es wird nicht alles erst im Paradies gut. Es gibt keine Vertröstung aus dem irdischen Jammertal ins Ewige Leben. Gottes Liebe ist dort nicht grösser, schöner, allumfassender. Er will dich jetzt. Er liebt dich jetzt, er kann nicht mehr. Nein, nicht, er kann nicht mehr, Gott kann immer! Er kann nicht mehr! Er gibt alles, hier und jetzt, seine uneingeschränkte Liebe für dich!
Hier und heute will er dir Fülle geben, jeden Tag neu! Er liebt dich jetzt zu 100 % und will, das dein Leben so in Ordnung kommt, dass du begeistert sagst: „ Ja, das ist Fülle! Ich erlebe sie, jeden Tag!“ Und ansteckend damit wirst.
Und genau das ist es, was ich im Kopf hatte, als ich von basics, von christlichen Grundlagen sprach. Dass du im Hier und Jetzt, in jedem Moment deines Lebens, lernst, Gottes volle Liebe abgreifen zu können. Sie wird nicht mehr. Sie ist schon da – 100 Prozent. Lass dich nicht auf das Jenseits vertrösten. Du lebst jetzt! Und das Reich Gottes ist jetzt für dich da. Und du für Gottes Reich!
Und du kannst die 100 % abgreifen, wenn du dich nur öffnest. Deine Wenns und Abers weglässt, deine inneren Blockaden selber einreißt oder sie abbauen lässt, wenn du endlich dein Bett in die Hand nimmst und gehst! Durch stille sein und Hoffen würdest du stark sein!
Und wenn du das spürst, dass du tragen kannst, weil du getragen wirst, wenn du täglich neu Boden unter die Füße nimmst und Land gewinnst, wenn du aus dieser Fülle der Nähe Gottes lebst, die dir jeden Tag neu und genug zum Leben gibt, was du brauchst, dann erfüllt sich dieser Katalog von dem, was du nicht sein sollst, Neider, um Aufmerksamkeit heischender Possenreisser, Habgieriger oder Unzüchtiger, dann erfüllt sich dieser moralische Katalog von ganz alleine. Dann bist du auf deinem Weg!
Ich habe den jungen Mann aus Gross Almerode in Gedanken vor mir, den, der nur auf Krücken in den Gottesdienst kommen kann. Als Sinnbild für all die Gehandicapten, denen es nicht leicht fällt, von Fülle zu reden. Jede und jeder hat sein eigenes Päckchen zu tragen. Jedes Leben hat einen anderen Rahmen, andere Grenzen, zeigt ein anderes Bild. Und doch kann jedes Leben die Fülle haben, in den mir gegebenen Möglichkeiten vollständig zu sein. Weil Gott jedes Leben liebt.
Glück ist keine Frage des absoluten Lebensniveaus, der Menge meiner Möglichkeiten. Glück ist immer ein Moment des Unterschieds, den ich erlebe. Der mich heraushebt aus dem Einerlei. Ein Moment von Achtsamkeit.

Gebt euch hin als Gabe und Opfer für Gott,

Gut, annehmen, die Fülle spüren können, ist das Eine, aber unser erster Satz geht noch weiter:
Folgt nun dem Beispiel Gottes als geliebte Kinder und führt euer Leben in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer für Gott, als ein lieblicher Wohlgeruch.
Hey, was ist das? Unser Predigttext fordert uns auf, für unseren Gott gut zu riechen! „Führt euer Leben in der Liebe, in der Hingabe, als Gabe und Opfer für Gott, so wie auch Christus uns geliebt und sich für uns hingegeben hat, als ein lieblicher Wohlgeruch.
Unser Leben gebe sich dahin, es gehe auf in Rauch und Wohlgeruch! Wir werden nicht krank vom Weggeben, wir werden krank vom Behalten, als Einzelpersonen und genauso als Gesellschaft.
Im Thomasevangelium, einem apokryphen Evangelium, steht die kürzeste Botschaft von Jesus an uns, die ich kenne. Zwei Worte: „Werdet Vorübergehende“. Lasst los!

Eine kleine Begegnung aus dem Jahre 2001 ist mir sehr im Gedächtnis geblieben. Sie fand statt auf Sri Lanka, im Zentralen Bergland, im einstigen Königreich Kandy, da, wo das Bergland fast 1000 Meter steil abfällt und unter dir nur noch Dschungel wabert, bis hin zum Meer. Hier betrieb Father Bosco, ein katholischer Priester und Tamile, zusammen mit einer katholischen Schwester ein Waisenhaus für ca. 40 Mädchen in einer wilden, einsamen Umgebung. Nachts wurden die beiden großen Schäferhunde auf dem Gelände losgelassen, damit keine ungebetenen Gäste sich einfanden.

Nach einer ungewohnten Nacht, als ich im frühen Morgenlicht in dieser tropischen Idylle lustwandelte, kam eines der älteren Mädchen auf mich zu und fragte mich, ob ich einen Becher Kaffee wolle, den sie schon in der Hand hielt. Ich war überwältigt. Nie zuvor hatte mir jemand einfach so einen Becher Kaffee angeboten.
Später, im Gespräch mit Father Bosco, als ich mich mit Dollars aus meiner knappen Reisekasse irgendwie erkenntlich zeigen wollte, und wir über Ostern, über Kreuzigung und Auferstehung diskutierten, da sagte er folgenden Satz, und ich wusste in diesem Moment genau, was er meinte: „You have to break yourself!“
Dein Leben hingeben, opfern, als wäre es nicht mehr deins. Du musst dich selber zerbrechen, dein Ego, deine Ideen verwerfen und fragen, was Gott will. Nicht glauben, du könntest Gott mit dem Zehnten zufrieden stellen. Mit dieser Gesetzlichkeit betrügst du dich selber um die Fülle, die Fülle, dich ganz zu geben. Es ist ein guter Anfang, aber noch nicht das Ende.
Ja, Aufgehen in Schall und Rauch, als ein lieblicher Wohlgeruch.
Erstaunlich, dass dieses Wort hier auftaucht – Wohlgeruch! Die Welt des Riechens ist eine eigene, eine faszinierende. Unsere Erinnerung ist sehr eng mit Düften und Gerüchen verknüpft. Gerüche können ganz spontan in eine lange zurückliegende und längst vergessene Situation zurückversetzen. Ein gesunder Mensch kann mehr als 10000 Duftnoten unterscheiden. Wir erinnern uns oft besser an Gerüche, als wir Worte dafür haben.
Möge unser Leben also zu einer individuellen Duftnote werden, die Gott gefällt. Mögen wir sanft „verduften“, bevor wir uns aus dem Staub machen, bzw. zu solchem werden.

Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und Fülle empfangen geht nicht, ohne sie gleich wieder auszugeben. Wie das Ein- und Ausatmen. Luft anhalten ist auf Dauer ungesund!

Hingegen und vor allem: Dankbarkeit (sieben Kostbarkeiten am Abend)

Noch ein letztes – ein drittes Kleinod aus unserem Predigttext, und dann komme ich ganz schnell zum Schluss – finden wir in Vers 4 unseres Predigttextes, am Ende des und im Gegensatz zu dem schon zitierten Moralinkatalog.
„Hingegen“, heißt es dort, im Sinne von „und eben im Gegenteil dazu“, Hingegen und vor allem: Dankbarkeit.
Aufrichtige Dankbarkeit, liebe Gemeinde, ist ein absoluter Glücksverstärker. Erlebtes noch einmal Revue passieren zu lassen, sich die Momente erlebter Fülle, noch einmal zu vergegenwärtigen, sich Zeit zu nehmen, einem Menschen zu danken, und /oder Gott einfach „danke“ für das Erlebte zu sagen.
Seit dieser Predigtvorbereitung nenne ich es nun „die sieben Kostbarkeiten am Abend“, mein kleines Ritual vor dem Schlafengehen, in dem ich versuche, sieben Dinge des Tages zu erinnern, die mir Freude gemacht haben, für die ich dankbar war und bin. Nicht etwas, für das man dankbar sein müsste, nein, nur solches, was mich wirklich bewegt hat.
Systematisches Dank suchen und ausdrücken, hilft ungemein, die Fülle, die Gott uns jeden Tag neu schenkt, bewusster wahrzunehmen.
Viel Freude damit.
Amen.

(Predigt am 28.02.2016 in Kassel zu Epheser 5, Verse 1-8, Zürcher Bibel von Dr. Ulrich Junga)