Liebe Gemeinde,
die Geschichte vom Auszug aus Ägypten ist eine „immer grüne“ Geschichte. Immer wieder haben Menschen mit dieser Geschichte ihr Leben deuten können: Gott löst unsere Fesseln.Und noch mehr:

Der Weg Israels in das verheißene Land ist so erzählt, dass er zugleich den inneren Weg für einen einzelnen Menschen darstellt: Der persönliche Weg in dein ureigenes Leben.

Wir wissen, der Weg Israels in ein neues Land ist lang gewesen. Und auch der Weg in unsere Bestimmung wird auch weit sein. Es ist ein Weg, den man nicht einfach abkürzen kann. Aber das wichtige ist: Der Weg hat ein Ziel. Da ist ein Land, das auf uns wartet, von uns entdeckt zu werden. In dieser Predigt will ich den Weg Israels in die Freiheit beschreiben als einen persönlichen Weg zum Ziel des ureigenen Lebens.

Der Weg beginnt in Ägypten

Jeder Mensch beginnt seinen Weg damit, dass er bzw. sie Schutz sucht in Ägypten. Die Vorfahren Israels kamen nach Ägypten, weil sie dort Zuflucht fanden vor einer Hungersnot. Alle Menschen beginnen ihr Leben damit, dass sie Halt suchen, sie suchen Unterschlupf. Das ist für uns vor allem unsere Familie und weiterer Bezugspersonen. Das sind die Menschen, zu denen wir Vertrauen aufgebaut haben, die uns Geborgenheit in den ersten Jahren gegeben haben. Die „Nahrung“, die Israels Vorfahren in Ägypten suchten, ist Symbol für unsere grundsätzlichen Lebensbedürfnisse.
Aber so gut und nahrhaft Ägypten am Anfang war, kann gerade dieses zu einer beherrschenden Macht werden. Die herausfordernde Aufgabe des Lebens ist: Finde deinen eigenen Weg. Finde das Ziel, das nur du hast. Bleiben wir in Ägypten, bleiben wir Fronarbeiter. Andere fangen an, zu bestimmen – bewusst oder unbewusst – was wir zu tun haben. Bleibe ich Ägypten, überlasse ich anderen die Führung meines Lebens und nehme es nicht auf die eigene Kappe. Auf Dauer wird mich das festhalten. Ich lebe nicht, ich werde gelebt.

Und irgendwann spüren wir eine Spannung in uns

Sie sagt uns: So kann es doch nicht bleiben. In was für einem Gehäuse von Regeln, Verhaltensweisen und Vorgaben bin ich gefangen! Letztlich bestimmen andere über mich. Ich spüre, ich kann nicht der Mensch sein, der ich eigentlich bin. Da entsteht ein Leidensdruck, eine Spannung, die mich drängt, du musst etwas ändern, sonst wirst du nicht glücklich. Und ohne diesen Leidensdruck geht nicht. Das kann in der Pubertät sein, mit 25 oder 30 Jahren, aber auch mit 50 oder bis in hohe Alter, dass ich spüre, ich bin hier falsch. Es muss sich etwas ändern.
Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend.

Und Gott reagiert und er offenbart sich dem Mose in einem brennenden Dornbusch und sagt zu ihm Ich habe das Elend meines Volks in Ägypten gesehen (…) Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie herausführe aus diesem Lande in ein gutes und weites Land.
Mose erfährt dabei den Namen Gottes. der da zu ihm spricht: Der Name zeigt uns das innere Wesen dieses Gottes: Im Hebräischen heißt dieser Namen Jahwe und übersetzt heißt das: Ich bin für dich da.
Dieser Gott ist seinem Wesen Zuwendung pur. Dieser Gott weiß, wozu ich geschaffen bin, der will mich in ein neues Land bringen. Und du spürst, dieser Gott ist kein Pharao, der mich bindet. Der Gott im Dornbusch ist anders. Der will keine Fronarbeiter. Er sagt: Ich hole dich daraus, ich löse deine Fesseln und bringe dich in ein weites Land. Und mit diesem Gott gelingt der Weg in die Freiheit.

Wie geht die Geschichte weiter? Zuerst aber fragen die Israeliten beim Pharao selbst an: „Gib uns ein bisschen mehr Freiheit.“ Der Mensch sucht erst eine offizielle Genehmigung auf dem Amtsweg. Innerlich ist er immer noch Fronarbeiter. Die Kraft zum offenen Bruch hat er nicht. Er strebt nur erste Lockerungen und Kompromisse an. Aber die Lösung ist das nicht, es wird nicht besser, es wird schlimmer. In der Geschichte Israels folgen dann die Plagen. In der Bibel sind das fünf Kapitel. Das hat einen tiefen Sinn. Wer aufbrechen will in ein Neues Leben, wird dem Pharao und Ägypten zur Plage. Wer sich verändert wird seiner Umgebung zu Plage.
Bisher war doch alles gut, du warst doch bisher immer zufrieden und jetzt stimmt nichts mehr? Und die Umgebung fragt sich: Warum ist der oder die plötzlich so kompliziert geworden? Bisher war der doch so pflegeleicht?

Dann kommen Plagen, insgesamt zehn Plagen. Frösche, Mücken, Heuschrecken fallen in das Land ein. Dunkelheit hüllt das Land ein. Das ist ein Ringen, das hin und hergeht. Und einige Plagen haben symbolischen Charakter, die sich psychologisch deuten lassen: Frösche sind ein Übergangssymbol vom Wasser zum Land. Die Mückenplage erinnert an die vielen Stiche im Gewissen, die alles zerfressenden Heuschrecken an Zweifel, die an einem nagen und die Finsternis spiegelt die Orientierungslosigkeit wieder. Der Konflikt eskaliert endgültig.
Irgendwann reicht es. Und man nutzt die nächstbeste Gelegenheit zur Flucht. Für Israel war es eine nächtliche Flucht, schnell wurden noch ungesäuerte Brote gebacken. Der Teig dafür hatte nicht mal mehr die Zeit aufzugehen.

Der erste wirkliche Schritt in die Freiheit ist eine nächtliche Flucht. So ängstlich und schwach sind wir an den entscheidenden Stellen des Lebens.

Niemand geht an dieser Stelle mit hocherhobenen Kopf hinein in die Freiheit, selbstbewusst und emanzipiert „Schaut her, ich gehe jetzt…“ Man flieht in der Nacht. Man schleicht sich davon. Ich muss einfach weg hier…

Aber kaum ist man weg, hat man die Verfolger auf den Versen: Der Pharao ist hinter mir: Wie eine innere Polizei, die mich zurückpfeifen will… Die alten Ängste verfolgen einen: Wag dich bloß nicht in unbekanntes Gelände! Fang nicht an selbstständig zu denken. Bleib nur im warmen Nest… Als Fronarbeiter hast Du es doch gut gehabt. Komm zurück und wenn nicht, dann holen wir dich. Und diese Gedanken sind mächtig wie die Streitwagen des Pharao.

Ein unüberwindbares Hindernis

Und du rennst bis du an ein Wasserhindernis kommst. Das Schilfmeer liegt vor dir, ein unüberwindbares Hindernis. Du kannst nicht vor, du kannst nicht mehr zurück. Wie oft erlebt man das! Wasser ist gebärend und verschlingend zugleich. In dieses Wasser musst du dich fallen lassen. Auf diesem Weg hast keinen Boden unter den Füßen. Lass dich fallen, hab Vertrauen. Der Gott, der dir sein Wort gegeben hat, mit dir zu sein bringt dich auf die andere Seite. Wie durch einen Geburtskanal hindurch kommst auf die andere Seite. Wer dort ankommt weiß: Ich bin nicht Sieger, ich bin Überlebender, ich bin froh, gerettet zu sein.
Auf der anderen Seite angekommen heißt es, tanzte das Volk Israel und stimmt einen Jubel an. Endlich frei! Kommt lasst uns jubeln und singen und Gottes Namen ehren. Endlich dem Machtbereich des Pharaos entronnen. Die alten Regeln, Verhaltensmuster gelten nicht mehr. Die alten Zwänge haben keine Macht mehr über mich. Viele Gospels atmen etwas von diesem Lebensgefühl, Gott hat mich gerettet, befreit.

Am anderen Ufer angekommen denkt man, jetzt habe ich es geschafft, Ich bin durch, ich bin frei. Ja, es war ein schwerer Weg bis dahin. Aber was hat man jetzt vor sich? Die Wüste liegt vor einem. Und da weißt du nicht, wo es lang geht. Nach der Ablösung gerät der Mensch in die formende Kraft der Wüste. Da muss man durch. Und das kann Jahre dauern. Bei Israel hat es Jahrzehnte gedauert. 40 Jahre.
Bisher bestimmten immer andere für mich. In der Wüste sagt niemand sagt mehr, was man tun jetzt soll. Wohin soll man sich wenden? Wohin sich orientieren? Jetzt muss man selber entscheiden und dafür die Konsequenzen tragen. Und wie oft wünscht man sich zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens. Die Wüste ist das Symbol der Orientierungslosigkeit, der Leere, des Ausgeliefertseins und des Mangels. Und offensichtlich ist der Mangel in der Wüste ist notwendig. Es ist schmerzhaft zu werden, wer man ist. Und so schwer das ist. Die Geschichte Israels sagt uns: Da musst du durch. Und manchmal dauert das Jahre. Im Exodus waren es 40 Jahre. In der Wüste tritt das Wesentliche zutage, scheidet sich das Wichtige vom Unwichtigen. So vieles, das unersetzbar schien, braucht man in der Wüste nicht.
Irgendwie geht es Tag für Tag weiter. Man sammelt täglich das Manna, erlebt das Einfliegen der Wachteln und ist froh über eine Wasserquelle. In der Wüste wird man bescheiden. Wovon man lebt, ist unverdientes Geschenk. Du lebst nicht aus deiner eigenen Kraft.

Du musst kämpfen!

Sehr bald nach dem Schilfmeerwunder kommt eine neue Gefahr auf. Der Stamm der Amelekiter greift die Flüchtlinge an: Kaum das wir gelernt haben, einen eigenen Weg zu gehen, müssen wir jedes Stück wachsender Selbstständigkeit gegen andere verteidigen. Wenn ich mein Leben ändere, kann ich es nicht erwarten, dass andere sagen, darauf habe ich schon immer schon gewartet. Nein, Pustekuchen! Man wird in Frage gestellt. Meine Kollegen, Konkurrenten gehen mich an, Freunde schütteln den Kopf. Finde deinen Standpunkt und stehe dafür ein. Wenn ich jetzt zurückweiche, fange ich an das Ureigene auf dem Altar der Harmonie zu opfern. Das wäre ein falscher Kompromiss. Die Amalekiterschlacht sagt uns: Du musst den Raum einnehmen, den Gott dir zum Leben zugewiesen hat. Überzogene Ansprüche von außen darfst du zurückweisen. Finde deinen Standpunkt und tritt für ihn ein.

Erst hier Mitten in der Wüste, nach dem das Volk sich gegen andere erfolgreich gewehrt hat, bekommt es die Zehn Gebote. So gesehen habe Ich gestaunt wie spät die kommen. Warum nicht schon früher, warum nicht am anderen Ufer des Schilfmeeres? Erst als Israel in der Lage ist, seine Freiheit zu behaupten, erhält es die Gebote. Das hat einen tiefen Sinn. Die Zehn Gebote sind kein neues Fremdprogramm, das uns steuern soll. Gott will uns nicht als Fronarbeiter. Der Gott der Bibel ist kein Pharao. Die Zehn Gebote sind Weisung zum Leben. Er will Menschen, die die Freiheit kennen und für sie einstehen. Die Gebote wollen dazu helfen, dass das Ureigene wachsen und fruchtbar werden kann, zum eigenen Wohl und zum Wohl der anderen. Dazu gehört auch, dass jeder Mensch lernt, den Menschen neben zu respektieren. Dafür brauchen wir die Zehn Gebote.

Von hieraus bis in das Land der Bestimmung liegen noch zwei Herausforderungen. Und zunächst kommt eine große Versuchung. Nach dem das Volk soweit gekommen ist, fertigt es in der Wüste das Goldene Kalb an. Genauer übersetzt ist es ein Stier, der die eigene Kraft und Potenz in den Mittelpunkt stellt. Der selbstständig gewordene Mensch ist in einer großen Versuchung: Die eigene Lebenskraft ist das Realste was es gibt. In meiner Kraft, in meinen Fähigkeiten spüre ich das Leben an sich. Dagegen ist Gott unwirklich. Hemmt Gott nicht unsere eigenen Möglichkeiten? Eher zelebrieren und vergötzen wir uns selbst. Es geht um einen Ausgleich: Wir sollen unseren Raum einnehmen, unseren Platz finden, aber wissen, wir leben nicht aus uns selbst. Das eigentliche im Leben wird geschenkt. Dafür brauchen wir den Gott des Exodus.

Das Ziel vor Augen

Und dann stehen wir endlich vor dem verheißenen Land, vor der Lebensbestimmung. Vor dem was immer mein Ziel war. Kundschafter werden ausgesandt, um das neue Land in Augenschein zu nehmen. Die kommen zurück und sagen: Das Land ist wunderschön, fruchtbar und weit, aber da wohnen Riesen. Wieder überfallen einen die Ängste: Bin ich eigentlich gut genug? Es ist die letzte Versuchung, jetzt im Ziel des Lebens nicht sesshaft zu werden. Habe ich die Fähigkeiten, das zu schaffen. Jetzt muss du Gott es zutrauen, diesem Gott, dessen Name ist: Ich bin für dich da. Dieser Gott hat ungeahnte Möglichkeiten, der macht mich tüchtig genug, dieses Land zu betreten. Und nun tue es.

Ein Wort zum Schluss: Der Weg Israels in das gelobte Land war lang, kurvenreich, oft waren die Menschen orientierungslos und spürten großen Mangel. Aber in den entscheidenden Grundfragen unseres Lebens geht es uns nicht anders. Nichts ist planbar. Aber geradeso führt Gott seine Menschen, er löst die Fesseln, befreit aus der Knechtschaft, und führt hinein in ein ureigenes Leben.
Ja, wir haben viele Grenzen, Ängste, wir werden versucht und bleiben stecken, aber Gott gibt uns ein Versprechen: Ich werde mit dir sein. Er kennt dein Ziel, er macht dich tüchtig. Geh deinen Weg mit ihm. Ihm kannst du dich anvertrauen auf dem Weg in dein ureigenes Leben.
AMEN.