Liebe Gemeinde,
also „Angela Merkel hat den Fehler gemacht…“, so begann der Satz eines Talkshow-Teilnehmers bei Anne Will am vergangenen Sonntagabend. Dann führte er mit gewichtigem Ton aus, was nun Angela Merkels Fehler gewesen sei. Der Hintergrund war, dass ihre Umfragewerte sehr gefallen waren. Es dauerte nicht lange, dann meldete er sich wieder zu Wort und sprach „Ihr Fehler sei gewesen…“ In meinen Ohren klang es ungemein selbstgerecht, wie er davon sprach.
Ich stöhnte innerlich auf und dachte: Jetzt wissen es wieder alle anderen besser und weiden sich an den Fehlern anderer. Sicher sind Fehler gemacht worden. Das ist nicht zu bestreiten. Und es werden weitere folgen. Und es ist auch viel richtig gemacht worden. Aber die Frage ist doch, wie geht es weiter. Meine Hoffnung, dass ich durch die Experten in dieser Gesprächsrunde irgendwas neu verstehen würde in der derzeitigen komplizierten politischen Situation, wurde durch diese Statements immer geringer. Als ein drittes Mal der Satz fiel: Sie habe einen Fehler gemacht, als…, habe ich ausgeschaltet. Um mir weitere Fehlerrechnungen und Schuldzuweisungen anzuhören, war mir der Abend zu schade.

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„Ich habe viele Fehler gemacht.“ Sagte eine hochbetagte Frau mit trauriger Stimme. Eigentlich möchte sie sterben. Sie kann kaum noch aus dem Haus gehen. Sie ist zu unsicher auf den Beinen. Darum sitzt sie viele Stunden allein in ihrem Zimmer und die Gedanken wandern zurück in die Vergangenheit. Und dabei verhaken sie sich besonders an den Punkten ihres Lebens, die nicht gelungen waren.
Sie erinnert sich an das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater. Sie spricht davon, dass sie ihren Kindern nicht gerecht geworden ist. Hätte sie doch…. Wäre es nicht besser gewesen, wenn …
Und da war noch der Bruch mit einer langjährigen Freundin. Warum eigentlich? Was ist da passiert? Ihr Resümee war: „Ich habe so viel falsch gemacht.“ Es war, als ob sie mit sich selbst und ihrem Leben abrechnete. Sie war sehr bedrückt.

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Liebe Gemeinde, beides begleitet unser Leben, dass wir zu Gericht sitzen entweder über andere oder über uns selbst. Dass wir uns über die Fehler anderer aufregen, ihnen ihre Schuld vorwerfen: „Der war schuld, dass…“ „Wie konnte sie nur….“
Oder dass wir uns selbst kritisch beäugen und beurteilen, was durch unser Tun alles falsch gelaufen ist.
Ich liege manchmal abends im Bett und mache mir Vorwürfe: Hätte ich nicht das und das gesagt, dann wäre das Gespräch nicht eskaliert… Hätte ich mich anders verhalten, dann…
Im Grunde genommen ist es auch nicht falsch. Es ist sogar wichtig Fehler, ja Schuld einzugestehen. Nur so ist Veränderung möglich.

Aber schwierig wird es, wenn das der bestimmende Blick auf das Leben ist.

Der alleinige Blick auf die Schuld, der gnadenlose Blick auf verfehltes Leben – das ist kaum auszuhalten. Im Laufe des Lebens häuft sich da nämlich so einiges an, und vieles davon ist auch nicht mehr zu ändern. Auch wenn wir wollten, es ist nicht wieder gut zu machen. Und das zu erkennen, ist bitter und kann einen verzagt machen. Was habe ich nicht alles falsch gemacht. Da wird es eng ums Herz.

„Großes Herz – sieben Wochen ohne Enge“ – heißt die diesjährige Fastenaktion der evangelischen Kirche zur Passionszeit. Am Mittwoch hat sie begonnen. Großes Herz – ohne Enge – ein schönes Thema. Doch ich frage mich, wie wird mein Herz groß und weit? Wie kommen wir aus der Enge unseres menschlichen Denkens und Handelns heraus, das gegen andere und gegen uns selbst sehr gnadenlos sein kann?

Vielleicht kommen wir da raus, wenn wir uns erinnern lassen an das, was Jesus Christus für uns getan hat. Seine Passion führt uns aus unserer Enge in die Weite.

Im Hebräerbrief steht dazu:

Weil wir nun aber einen großen Hohenpriester haben, der den ganzen Himmel ´bis hin zum Thron Gottes` durchschritten hat – Jesus, den Sohn Gottes -, wollen wir entschlossen an unserem Bekenntnis zu ihm festhalten.
Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Vielmehr war er – genau wie wir – Versuchungen aller Art ausgesetzt, ´allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass` er ohne Sünde blieb.
16 Wir wollen also voll Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.

(Hebräer 4, 14-16, NGÜ)

Ich habe uns den Predigttext für heute noch mal gelesen, weil er nicht so leicht bei einem ersten Hören zu erfassen ist. Denn der Schreiber des Hebräerbriefes greift auf Bilder zurück, die uns fremd sind.

Was ist gemeint, wenn Jesus, der Sohn Gottes, als „großer Hoherpriester, der den ganzen Himmel durchschritten hat bis zum Thron Gottes“ beschrieben wird?

Damalige Leser, vermutlich Christen mit jüdischen Wurzeln hatten bei diesen Worten sofort den Gottesdienst im Tempel in Jerusalem vor Augen. Zu der Zeit war der Tempel zwar schon zerstört, aber die Erinnerungen an Raum und Rituale waren noch wach.
Man wusste: Einmal im Jahr am Versöhnungstag betrat der Hohepriester als Einziger das Allerheiligste, den Raum im Gotteshaus, wo Himmel und Erde sich berührten. Dort war Gott gegenwärtig. Allein der Hohepriester betrat diesen von Gott erfüllten Raum und vollzog an diesem Ort ein Versöhnungsritual. Dadurch sollte alles, was das Volk von Gott trennt, beseitigt werden. Alles, was falsch gelaufen war, all die Schuld, die sich im vergangenen Jahr angesammelt hatte, brachte er stellvertretend vor Gott. Der Hohepriester hatte die Aufgabe für das ganze Volk vor Gott im Allerheiligsten einzutreten. Und er brachte damit das Volk, das sich von Gott entfernt hatte, selbst in Gottes Nähe zurück. Versöhnung zwischen Gott und Mensch geschieht. Die Gemeinschaft zwischen Gott und seinem Volk wird wiederhergestellt.

Der Hebräerbriefschreiber greift nun dieses Ritual am Versöhnungstag auf und überträgt auf Jesus diese hohepriesterliche Funktion. Wie der Hohepriester durch Vorhof und Höfe des Tempels ging, hat Jesus alle Himmel durchschritten. Nun befindet er sich im Allerheiligsten, und tritt vor Gott stellvertretend für uns ein. Christus hat uns in die Nähe zu Gott gebracht. Er hat die Gemeinschaft zwischen Gott und uns Menschen wieder hergestellt.

Ich weiß nicht, wie es euch geht: Bei dem Begriff „großer Hoherpriester“ stellt sich bei mir eher ein Gefühl von Distanz ein. Ein Hoherpriester hatte lange Gewänder, war besonders herausgehoben und wegen seiner Funktion unnahbar. Aber der Schreiber des Hebräerbriefes setzt da was dagegen. Jesus ist da anders, Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Sagt er. Jesus versteht unsere Schwachheit. Ja, er hat eine regelrechte Schwäche für uns Menschen.
Der Briefschreiber verwendet für Jesu Haltung ein schönes Wort im Griechischen: da steht eigentlich: Jesus „sympathisiert“ mit uns (V.15). Wörtlich übersetzt: Er leidet mit uns. Er empfindet mit uns, wir sind ihm sympathisch. Darum unterstützt er uns. Darum geht er für uns ans Kreuz, und damit zu Gott, der uns mit großem Herzen voller Erbarmen und Gnade begegnet. Versöhnung ist geschehen in Christus.

Liebe Gemeinde, und nun? Ich kann mir vorstellen, dass die eine oder der andere bei sich sagt, das mag ja alles theologisch gut und richtig sein, habe ich schon zigmal gehört, aber was hat es denn nun mit meinem Leben heute und hier zu tun. Warum soll ich Jesu Passion jedes Jahr immer wieder neu bedenken?
Kann mir das Vertrauen auf Jesus Christus, der mir durch seine Sympathie Zugang zum gnädigen Gott geschaffen hat, die Hilfe sein, die ich schon heute brauche. Oder ist das eine Frage, die nur nach dem Tod relevant wird?
Ich möchte noch mal an die Beispiele vom Anfang erinnern.
An das gnadenlose Beurteilen der Fehler, die immer die anderen machen. Diese Streitunkultur, in der andere unbarmherzig abgekanzelt werden. Oder auch der unversöhnliche Blick auf das eigene Leben mit all dem, was man falsch gemacht hat, wie ich es von der alten Frau erzählt habe.

Auch wenn es das Ritual vom Versöhnungstag, das der Hebräerbrief aufgreift, seit der Zerstörung des Tempels nicht mehr gibt, ist doch Versöhnungstag bis heute der höchste Feiertag im Judentum. Jom Kippur genannt. Es ist ein strenger Fastentag. Ihm gehen 10 Tage der Reue voraus, die dazu dienen, sich mit allen Mitmenschen wieder zu versöhnen, mit denen man sich im Laufe des Jahres gestritten hat oder die man irgendwie verletzt hat. Und damit wird deutlich: Versöhnung mit Gott und Versöhnung untereinander stehen in einem engen Zusammenhang.

Wenn uns zu Beginn der Passionszeit daran erinnern, was Christus für uns getan hat, dann kann das unser Herz weitmachen. Denn als Versöhnte mit Gott können wir Versöhnung leben. Oder zumindest versuchen, Schritte der Versöhnung zu gehen. So sage ich es immer in der Abendmahlsliturgie, bevor wir einander uns den Friedensgruß zusprechen.

Weil Gott uns durch Christus mit einem großen Herzen der Barmherzigkeit und der Liebe begegnet, können wir barmherzig – großherzig anderen und auch uns selbst begegnen.

Die Passionszeit hat gerade begonnen. Die meiste Zeit davon liegt noch vor uns. Das Motto „Großes Herz – 7 Wochen ohne Enge“ ist doch wirklich gut.
Versucht doch in den nächsten 7 Wochen da mal bewusst bei Gesprächen mit anderen hinzuhören. Überlegt, ob es z.B. sein muss, dass ihr euch über die Fehler der anderen aufregt. Versucht, nicht mitzumachen bei den oft allzu einfachen Schuldzuweisungen. Fällt keine gnadenlose Urteile. Versucht mit weitem Herzen auf die Situation zu schauen. Versucht zu verstehen, warum der andere so ist und so gehandelt hat.

Und seid auch mit euch selbst barmherzig. Schaut gnädig auf das, was euch in eurem Leben nicht gelungen ist. Ich will es zumindest versuchen, wenn ich mal wieder abends im Bett mit mir und über den zurückliegenden Tag zu Gericht sitze. Dass ich barmherziger darauf schaue und dann den verkorksten Tag dem barmherzigen Gott anbefehle. Mit sich selbst versöhnt, schläft es sich besser.

Ich glaube, erst heute verstehe ich ein wenig das alte Kindergebet, in dem es heißt:
Hab ich Unrecht heut getan,
sieh es, lieber Gott, nicht an!
Deine Gnad und Jesu Blut,
machen allen Schaden gut.
Amen