Die kanaanäische Frau
Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass sie doch gehen, denn sie schreit uns nach Er antwortete aber und sprach: Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
Sie aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Matthäus 15, 21-28
Liebe Gemeinde,
in den letzten Wochen habe ich gespannt verfolgt, wie tausende Flüchtlinge aus dem Nahen Osten über die sogenannte Balkanroute nach Deutschland gekommen sind. Ich bekomme die Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Die kenternden Flüchtlingsboote, der ertrunkene dreijährige Junge namens Eilan, der am Strand liegt. Der Lastwagen in Österreich mit über 70 Toten. Als dann die Kanzlerin Angela Merkel reagierte und erklärte, wir nehmen die Kriegsflüchtlinge auf, war das zuerst wie eine Erlösung. Das hieß nämlich: Weitere humanitäre Katastrophen bleiben uns erspart. Keine Toten auf dem Bahnhof in Budapest. Keine Menschen, die zwischen Ungarn und Serbien wie im Niemandsland herumirren.
Was waren das für Bilder, als die Flüchtlinge in München willkommen geheißen wurden. Und die Politiker verkündeten stolz und selbstbewusst: „Wir schaffen das!“ Und die Behörden und Hilfsorganisationen zeigt all ihr Können. Da spürte ich so etwas wie Stolz auf dieses Land. Kaum eine Woche später meldeten sich die ersten Zweifler. Das wird zu viel. Das sind so viele Flüchtlinge. Wir schaffen das nicht mehr. Wie viele Flüchtlinge werden noch kommen? Welche Länder in Europa nehmen noch Menschen auf?
Zwischen Neugier und Angst
Ich persönlich schwanke zwischen Begeisterung, dem Willen, etwas zu tun und Befürchtungen. Wie sollen wir die Menschen im kommenden Winter alle versorgen? Und vieles mehr. Was wird sich alles bei uns verändern? Da sind viele gegensätzliche Gefühle in vielen von uns.
Auf der einen Seite kenne ich Neugier und Faszination dem Fremden gegenüber und gleich daneben auch Vorsicht, Skepsis bis hin zu Angst. Diese Gefühle sind typisch für die Begegnung mit Fremden.
Dass Menschen sich fremd sind, dass sie von anderen befremdet sind, ist nichts Außergewöhnliches. Nein, es ist natürlich, es ist in unseren Genen angelegt. Sie ist eine uralte Menschheitserfahrung, die Angst vor dem Fremden, genauso wie die Faszination durch das Fremde.
Gastfreundschaft in der Antike
Zivilisationen und Kulturen haben ihre Regeln entwickelt, um die Angst vor dem Fremden zu verringern. Im antiken Griechenland gehört dazu die Gastfreundschaft. Dabei ist im Griechischen das Wort für Gast und Fremder gleich – xenos. Wer bist du und woher kommst du, wurde im alten Griechenland gefragt und dann eine begrenzte Gastfreundschaft für drei Tage dem Fremden gewährt.
Im Alten Testament liest man immer wieder die Mahnung, dass die Fremden geachtet werden sollen: Die Fremden, das waren zum Beispiel die Flüchtenden aus dem eroberten Nordisrael, die im Südreich Juda Schutz suchen. Und der Gott der Bibel wird beschrieben als Gott, der zu den Schutzbedürftigen steht, den Witwen und Waisen und zu den Fremden. Auch sie sollen ihren Platz haben.
Und immer wird dies begründet, denn „du warst ja auch Fremdling in Ägypten“. Also gewähr ihm einen Gaststatus, denn „Gott liebt ihn“. Man findet diese Mahnungen häufig. Ein Theologe hat diese Tatsache sogar das 11. Gebot genannt. Diese Mahnung, dem Fremden Schutz zu gewähren, war offensichtlich nötig. Gebote schärfen etwas ein, was umstritten ist.
Jesus und die fremde Frau
Auch Jesus muss sich mit dem Fremden auseinandersetzen. Wir haben gerade eine Geschichte gehört, in der Jesus im Ausland ist. Jesus flieht in den Norden und er geht in einen Landstrich, der heute zum Libanon gehört. Nie war Jesus weiter weg von Jerusalem als hier zwischen Tyrus und Sidon. Und hier schreit eine kanaanäische Frau hinter ihm her. „Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Und wir erleben dabei, wie Jesus fremdelt und die Frau ablehnt. Sie ist eine Nichtjüdin, aber sie redet ihn mit dem messianischen Königstitel an. Mit ihrer Anrede: Sohn Davids erkennt sie Jesus als Juden. Sie weiß genau da ist eine Grenze zwischen ihr und Jesus, aber gleichzeitig ist da so viel Hoffnung: Vielleicht kann er dem Kind helfen.
Die Frau hält nichts zurück, sie fragt nicht zaghaftes an. Sie wirft sich Jesus mit allem, was sie hat, entgegen. Sie als Mutter weiß sich nicht mehr anders zu helfen. Jesus, der sonst stets auf einem solchen Ruf nach Erbarmen reagiert, bleibt stumm. Was ist mit ihm? Offensichtlich ist Jesus befremdet. Die Fremde macht ihn stumm!
Wir kennen das vielleicht, wenn wir fremde Länder bereisen. Wir wollen nur Beobachter sein. Und es gibt Verhaltensweisen, die machen uns stumm, verlegen, hilflos, ängstlich.
Während die Jünger da ganz eindeutig sind. Sie wollen sie los werden. „Werde sie los, denn sie schreit hinter uns her.“ Einige Übersetzungen deuten das auch so: „Erfülle ihr den Wunsch, damit wir endlich Ruhe haben.“
Auch das kenne ich aus Ländern, in denen Touristen offen angebettelt werden. Und manchmal auch hier in Deutschland. Ich kenne solche Situationen vor allem auf Bahnhöfen. Manchmal gehe ich schnell weiter oder aber ich habe etwas Kleingeld in der Tasche, das ich geben kann. Aber Hauptsache, man wird in Frieden gelassen.
Jetzt aber reagiert Jesus überraschend mit einem nationalen Argument. „Nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel bin ich gesandt“, ist seine schroffe Antwort an die Jünger. Jesus sieht nicht die Not der fremden Frau. Er sieht nur seine Leute. Was mich sonst immer fasziniert, ist wie Jesus auf Menschen reagiert, die ihn um Hilfe bitten. Und immer spürt man, dass er die Not von Menschen sieht und dann hilft. Und in vielen Situationen nimmt er sich Zeit. Hier ist nichts davon. Hier merkt man, dass selbst Jesus aus Nazareth, unser Heiland, keine Zeit hat, nur seine Ruhe haben will und von Fremdenangst nicht frei war. Er zieht sich zurück. Er erklärt sich für nicht zuständig. Die Not des eigenen Volkes ist ihm näher als die fremde Not. Kennen wir diese Argumentation nicht auch? Als ich in einem Gespräch meinte, wir müssen den Flüchtlingen helfen, sagt mir jemand: „Hier gibt es doch auch so viele arme Menschen. Denen sollte zuerst geholfen werden.“
Jesus fremdelt
Zurück zur Geschichte. Die Frau versucht es nochmal. Sie gibt nicht auf. Sie rückt näher, fällt vor Jesus nieder und sagt zum zweiten Mal „Herr, hilf mir.“ Wirklich, eine schwierige Situation für Jesus. Da liegt jemand vor ihm auf den Knien – inzwischen gibt es das auch in unseren Innenstädten – und jetzt: was wird Jesus tun?
Die Antwort Jesu fällt nicht weniger deutlich aus. Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe es vor die Hunde.
Er weist er sie zum zweiten Mal zurück. Kaum zu glauben, wie schroff Jesus sein kann. Er vergleicht die fremde Frau mit den Hunden. Damit sind die Hunde gemeint, die im Haus mit den Menschen leben und bekommen, was übrig bleibt. Auch sie werden versorgt, aber im Haus gilt: Zuerst müssen die Kinder satt sein, bevor man an die Hund denkt. Aber mit dieser Äußerung gibt Jesu der Frau die Gelegenheit, seine Argumentation auszuhebeln. Und hier geschieht etwas Ungeheuerliches: Das Blatt wendet sich: Die Frau nimmt die Kränkung auf erträgt sie. „Ja, du hast recht Herr, aber doch fressen die Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“
Der Glaube der Frau durchbricht Grenzen
Sie schreit nicht mehr, sie zetert nicht, sondern sie antwortet scharfsinnig. Sie erträgt die Kränkung, auf die Seite der Hunde zu gehören, aber nimmt das Argument gegen sie auf und lässt es für sich sprechen. Sie demütigt sich und gleichzeitig ist sie eine souveräne Frau. Sie lässt sich ihren Stolz nicht nehmen. Und Jesus kann sich dem nicht entziehen. Er sagt: „Frau, dein Glaube ist groß. Es soll geschehen, wie du willst.“
Hier merken wir, was Glaube ist. Die Frau hat einen Glauben, der die Grenzen, die Gott selbst gesetzt hat, durchbricht. Wie in vielen anderen Heilungsgeschichten ist auch hier das Heilungswunder. Der Glaube der Frau rechnet mit Gott an der Grenze der Möglichkeiten.
Sie erkennt die Fülle Gottes; Gott hat nicht nur Nahrung für seine Kinder aus dem Volk Israel, sondern für alle Menschen. Auch für ihr Kind, für das sie einsteht. Sie erkennt in diesem Gott einen überströmenden Gott, der reichlich hat. Ihr Glaube ist groß, nie im Neuen Testament ändert Jesus so seine Meinung, wie hier durch die Argumentation einer Frau.
Und selten bekommt man so ein solches Bild vom Glauben zu greifen. Hier gehören Glauben und Willen zusammen. Die Botschaft dieses Textes heißt: Gott will, dass wir wollen. Diese Frau ist darin ein Vorbild, weil sie ihr Innerstes nach außen kehrt, gegen jede Konvention, die uns sagt, das macht man/frau nicht oder gegen jede Tradition, die uns sagt, das darf frau/man nicht.
Diese Geschichte ermutigt uns Menschen, mit Gott zu ringen und sich nicht mit seinem Schweigen abzufinden, wenn er schweigt.
Letztlich hat diese Frau mit uns viel gemeinsam. Denn wir gehören doch auch nicht zu den Schafen Israels.
Diese Frau hat bei Jesus und seinen Jüngern etwas ausgelöst, eine Tür wurde geöffnet, durch die andere, durch die auch wir eingetreten sind.
Erst später öffnet sich der Heilsweg zu uns und Matthäus nimmt diese Geschichte auf, um zu zeigen, schon dort finden Menschen außerhalb von Israel zu Jesus. Wie die drei Weisen aus dem Morgenland, in seiner Weihnachtsgeschichte und dem römischen Hauptmann unter dem Kreuz.
Das ist das zweite Wunder in dieser Geschichte, dass Jesu Verhalten sich ändert: Von der Ablehnung der fremden Frau zu ihrer Anerkennung. Zuerst war er befremdet und dann aber erkennt er die Not dieser Frau. Er sieht ihren Glauben. Für uns ist diese Geschichte beispielhaft: Befremdung ist nicht schlimm, man darf sie auch äußern. Aber man muss bereit sein, sie infrage zu stellen, und aus der Begegnung mit den Fremden zu lernen.
Amen
Bei der Vorbereitung habe ich von einer Predigt profitiert, die Professor Dr. Hans-Jürgen Benedict am 14.November 2010 im Berliner Dom gehalten hat.